Leid betrauern

Liebe Carmen,

ich habe mir den Trailer zu Viktorskopf angeschaut und war sehr bewegt. Ich kenne die Bücher von Arno Gruen und weiß daher, wie stark unser Leben heute von den Ereignissen in der Nazizeit beeinflusst wird. Leider war mein Großvater mütterlicherseits kein Widerstandskämpfer, sondern ein fanatischer Nazi. Er glaubte an den Endsieg und kämpfte bis zum Schluss, bis er im März 1945 vermutlich bei einem Angriff amerikanischer Tiefflieger erschossen wurde. Das war seltsamerweise ganz in der Nähe von der Grube Louise, und er ist auf einem Soldatenfriedhof bei Altenkirchen bestattet. Wenn ich also beim Frühjahrslager in der Grube bin, fahre ich meistens dort zum Grab und rezitiere ein Hannya Shingyo. Das ist, was ich heute tun kann: mich für die Transformation dieses Grauens und Entsetzens zu engagieren. Meine Oma hat nach dem Krieg den kompletten Briefwechsel zwischen ihnen vernichtet, gesprochen wurde darüber nicht.

Der Vater meines Opas, also mein Urgroßvater war Ortsgruppenleirter in dem Ort, wo ich aufgewachsen bin und somit verantwortlich für die Deportation von Juden. Mein Vater war in der Hitlerjugend und ich selbst habe als kleiner Junge noch mit seinem Nazispielzeug gespielt. Mein Großvater väterlicherseits war beim Russlandfeldzug dabei und geriet dann in russische Gefangenschaft, von der er nach einigen Jahren zurückkam. Leider gibt es also in meiner Familie keinen, der Widerstand leistete, keine Zivilcourage, kein Mut und so kann ich leider auch keinen Beitrag für deine Webseite beisteuern. Indessen denke ich, dass es die Essenz von Zen ist, zu sehen, dass es letztlich keine Dualität gibt, also auch keine Dualität im Sinne von Tätern und Opfern. Auch die Täter waren Opfer, es gab entsetzliches Leid. Dieses kann nicht relativiert werden, sondern muss im Gegenteil ganz erlebt und betrauert werden, wenn wir lebendig sein wollen. Insofern glaube ich, dass z.B. die bearing witness retreats von Bernie Glassman in Auschwitz eine angemessene Plattform für Transformation sind, leider konnte ich bislang noch nicht teilnehmen.

Herzliche Grüße

Armin

1 comment on “Leid betrauernAdd yours →

  1. Lieber Armin,

    danke für deine ehrliche und berührende Mail. Wir haben uns nicht aktiv ausgesucht, in welche Familie wir hineingeboren werden.Wir haben ein Familienkarma zu tragen und das können wir reinigen, abtragen, heilen – ich finde kein passendes Wort.
    Ich finde es ermutigend und bewundernswert, dass du die Geschichte deiner Großväter annimmst. Es gibt jemanden in deiner Familie der Mut und Zivilcourage zeigt, das bist du, indem du die Geschichte deiner Vorväter nicht abspaltest, beschönigst, sondern dich in der Tiefe, mit allem Scherz, den das sicherlich bedeutet, davon berühren lässt.

    Die „Heldengeschichten“ sind ja leicht zu erzählen und zu veröffentlichen. Mit den düsteren, abstoßenden Seiten der Vorfahren offen umzugehen, ist sehr schwierig. Das macht kaum jemand. Deshalb ist ja unsere Gesellschaft bis in die Sozialstrukturen hinein von der NS-Zeit beeinflusst – bis heute.

    Herzlich
    Carmen

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